Die wahren Machthaber in der EU und die Demokratie


Mehr als 80 % der Gesetze kommen aus Brüssel, sagt man. Auch wenn es in Wahrheit nur die Hälfte ist, Entscheidungen, die das Wohl und Wehe der Unternehmer wie der Bevölkerung angehen, sind bei uns demokratisch zu treffen. Das kann man so ohne weiteres aber weder von den Entscheidungen des Europäischen Parlaments behaupten, wo vor allem die europäischen Fraktionen das Sagen haben. Die dort Verantwortlichen sind aber dem Bürger oft völlig unbekannt.

 

Das gilt auch für die Mitglieder des für die Gesetzgebung viel wichtigeren Ministerrates. Denn da stimmen die Fachminister der Mitgliedsländer ab, die wir nicht wählen können. Was aber vielen unbekannt ist: auch der Europäische Gerichtshof dreht mit seinen Interpretationen, was in Europa sein darf oder nicht, ganz stark an der Gesetzesschraube mit. Den Gerichtshof haben die Unionsbürger auch ganz sicher nicht gewählt.

Europa kümmert sich um alles und nichts. Es hinkt von Krise zu Krise. Als eine Ursache gilt das Demokratiedefizit, das schon seit jeher beklagt wird. Anders wäre es kaum zum Brexit und aufgeregten Volksbefragungen wie zuletzt in Ungarn gekommen. Hätte man rechtzeitig dem Volk aufs Maul geschaut, hätte Europa womöglich die Finger von besonders heiklen Themen gelassen. Bei der notorischen Forderung nach EU-Steuern oder z.B. der Vergemeinschaftung von Arbeitslosengeld ist das nächste Referendum vorprogrammiert. Vielleicht sogar in Deutschland?

Demokratie und Parlament

Im Europäischen Parlament üben die Fraktionen die wahre Macht aus. Für sie gibt es aber keine Wähler. Eine Stimme kann nur den Parteien im jeweiligen Mitgliedsland gegeben werden. Ob in den europäischen Fraktionen ein griechischer Ziegenhirte das Sagen hat, einer, der das Lied eines bulgarischen Oligarchen singt oder ein dem Papst nahe stehender italienischer Lehrer, bleibt den Bürgern normalerweise verborgen. An dieser Distanz zwischen Wählern und Fraktionen kann auch ein Parlament bzw. ein Europa mit mehr Kompetenzen nichts ändern, was Parlamentspräsident Martin Schulz gerne hätte.

Der Ministerrat

Für die europäische Gesetzgebung hat der Ministerrat eine weit wesentlichere Bedeutung.

Geht es bei einer Entscheidung um Wirtschaft und Finanzen, schickt die Bundeskanzlerin Herrn Schäuble zur Abstimmung in den Ministerrat, bei Verkehrsfragen Herrn Dobrindt, usw.. Entschieden wird in den meisten Fällen mit qualifizierter Mehrheit, die fairerweise auch der Bevölkerungszahl eines Mitgliedslandes Rechnung trägt. Einstimmigkeit gilt dagegen z. B. bei Steuern oder Sozialpolitik.

Aber auch im Ministerrat leiden die Entscheidungen unter einem demokratischen Defizit. Zwischen den Wählern und Herrn Dobrindt stehen Berge. Zu den anderen Verkehrsministern aus den Mitgliedsstaaten im Ministerrat, die aber mitentscheiden, besteht überhaupt keine institutionalisierte Verbindung. Die Demokratie, also die Mitwirkung des europäischen Volks an der Meinungsbildung, ist insoweit völlig versandet.

Der Europäische Gerichtshof

hat schließlich die Aufgabe auszuloten, wie einzelstaatliche Verfassungen und die EU-Verträge miteinander wirken und z.B. aufzuklären, was die Freiheit bedeutet, sich in Europa überall niederlassen zu dürfen, Waren oder Dienstleistungen umzusetzen, Kapital über die Grenzen zu bewegen oder überall arbeiten zu können. Dieses höchste EU-Gericht darf in letzter Instanz entscheiden, wo die Grenzen dieser Freiheiten liegen.

Dabei entscheidet der Gerichtshof ganz häufig im Interesse der Unternehmer. So hat er schon vor Jahren die Briefkastengesellschaften in der Europäischen Union legitimiert. Ein Investor benötigt einen guten Banker, eine Immobiliengesellschaft und eine tüchtige Hausverwaltung. Aber kein teures Büro! Handy und Briefkasten scheinen auszureichen. Der Gerichtshof hat auch nie ein Problem darin gesehen, wen jemand nur aus steuerlichen Gründen in ein anderes Land übersiedelt.

Neuerdings hat er in einem Fall einer europäischen Ausschreibung die Gültigkeit deutschen Tarifrechts ausgesetzt. Derzeit scheint er sogar das deutsche Mitbestimmungsrecht für im Ausland eingesetzte Mitarbeiter anzuzweifeln, alles im Namen eines freien und ungehinderten Wettbewerbs in Europa.

Der Zorn des Volkes

Je mehr Menschen aber erkennen, dass der Unionsbürger dabei überhaupt nicht gefragt wird, desto mehr muss auch der Gerichtshof damit rechnen, den Zorn des Volkes auf sich ziehen. Vor allem soziale Errungenschaften lassen sich Gewerkschaften kampflos auch von einem Gerichtshof kaum streitig machen.

Hinzu kommt, dass der Gerichtshof sich in seiner Unabhängigkeit selber diese Macht verordnet hat, die Sympathie für Unternehmen in Ehren. Mitte der 60-Jahre hat er entschieden, dass die römischen Verträge, welche die obigen Freiheiten verbriefen, Verfassungsrang hätten. Damit brachen die Richter alles nationale Recht. Auch unser Grundgesetz.

Selbst in diesen Artikeln und in anderen Verfassungen hat nur Verfassungsrang, was wirklich wichtig ist. Alles andere kann im Bundestag mit Mehrheit geändert werden. So ist es auch in anderen Mitgliedsländern. Obwohl die Römischen Verträge genauso Wichtiges wie Unwichtiges enthalten, hat alles darin unterschiedslos Verfassungsrang.

Keiner der Väter Europas hat damals bei der Unterschrift unter diese Verträge soweit gehen wollen. Es galt, den Frieden für die Zukunft zu sichern, der mit einem gemeinsamen Handel und dem damit geschaffenen gegenseitigen und wachsenden Wohlstand am besten erhalten wird.

Daher gibt es kaum einen anderen Weg als die Änderung dieser Verträge. Es gilt klarzustellen, was wirklich so bedeutend ist, damit der Verfassungsrang gerechtfertigt ist. Alles andere müsste wieder zurückfallen in die Zuständigkeit der Parlamente und damit in die Hände der Wähler. Das wäre Demokratie.


 

Von Walter Grupp

Zuerst veröffentlicht auf Belgieninfo am 12/10/2016